Friedensnobelpreis 1938: Internationales Nansenamt für Flüchtlinge

Friedensnobelpreis 1938: Internationales Nansenamt für Flüchtlinge
Friedensnobelpreis 1938: Internationales Nansenamt für Flüchtlinge
 
Die vom Völkerbund gegründete Organisation erhielt den Friedensnobelpreis für ihr humanitäres Wirken für Flüchtlinge nach dem Ersten Weltkrieg.
 
 
Internationales Nansenamt für Flüchtlinge, 1921 gegründet, 1931 neu organisiert, 1939 Fusion mit dem Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Schicksal von Flüchtlingen zu einem akuten internationalen Problem. Unzählige Menschen hatten durch den Krieg ihre Heimat verloren. In Russland waren nach der Revolution von 1917 Vertreibungen ebenso an der Tagesordnung wie in anderen Krisengebieten der Welt.
 
Als Reaktion auf diese Verhältnisse gründete der Völkerbund 1921 eine eigene Organisation mit dem Auftrag, den Flüchtlingen konkrete Hilfe zu leisten. Dabei spielten nicht nur humanitäre Überlegungen eine Rolle. Das Vorhandensein einer solch großen Zahl von Flüchtlingen barg erheblichen sozialen Sprengstoff in sich und stellte auch eine ernste Bedrohung für die internationale Sicherheit dar.
 
Zum ersten Leiter des neuen Flüchtlingsbüros bestellte der Völkerbund eine weltberühmte Persönlichkeit: den norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen (Nobelpreis 1922), der durch seine Expeditionen in Grönland und im Polargebiet bereits zu Lebzeiten zu einer Legende geworden war. Nansen widmete sich dieser weiteren Herausforderung mit großem Engagement und konnte bald beachtliche Erfolge vorweisen. Als überaus hilfreich erwies sich die Einführung des so genannten Nansenpasses, der es staatenlosen Flüchtlingen ermöglichte, sich in der Fremde eine neue Existenz aufzubauen.
 
 Neugründung als Nansenamt
 
Nach dem Tod Nansens im Jahr 1930 beschloss der Völkerbund die Gründung einer neuen Hilfsorganisation für Flüchtlinge. Das Internationale Nansenamt für Flüchtlinge (Office International Nansen pour les Réfugiés) nahm seine Arbeit 1931 auf. Diese Bezeichnung war zum einen eine Anerkennung der Leistungen Nansens, zum anderen hoffte man, mit dem berühmten Namen der Organisation bei der Bewältigung ihrer schwierigen Aufgabe mehr Gewicht zu verleihen. Koordiniert wurden die Aktivitäten von Genf aus, und hier residierte auch ein Verwaltungsrat mit zwölf Mitgliedern. Den Vorsitz hatte ein von der Vollversammlung des Völkerbunds gewählter Präsident. Bis 1938 hatte das Nansenamt drei hochkarätige Präsidenten: den Schweizer Juristen Max Huber (1931-33), zugleich Präsident des Internationalen Roten Kreuzes, den Schweizer Richter Georg Werner (1933-35) und den norwegischen Juristen Michael Hanssen (1936-38), der auch Präsident des Internationalen Hilfskomitees für die Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs war.
 
Das neue Nansenamt hatte von Anfang an mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. So war die finanzielle Ausstattung eher bescheiden, denn zu einem großen Teil wurden die Ausgaben aus den Einnahmen des Verkaufs der (jährlich zu erneuernden) Nansenpässe bestritten.
 
Auch ließ die Bereitschaft der Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, zu wünschen übrig. Die Weltwirtschaftskrise von 1932 hatte überall zu Massenarbeitslosigkeit geführt, und so weigerten sich viele Regierungen, auf ihren Territorien fremden Flüchtlingen eine materiell gesicherte Existenz zu verschaffen.
 
Dennoch konnte das Nansenamt auch unter diesen erschwerten Bedingungen Erfolge vorweisen. Die Zahl der Flüchtlinge, denen geholfen werden konnte, erreichte insgesamt fast die Millionengrenze. Die Formen der Hilfe waren vielfältig: Man ermöglichte die Rückkehr in die Heimat, sorgte für eine Ansiedlung in überseeischen Staaten wie vor allem Nord- und Südamerika oder verschaffte den Emigranten eine Zuflucht in ihren jeweiligen Gastländern. Ein Höhepunkt der Erfolgsbilanz des Nansenamtes war die humanitäre Hilfe für die armenische Minderheit in der Türkei: 40 000 Armeniern konnte in Syrien und im Libanon und weiteren 10 000 in Eriwan eine neue Heimat zugewiesen werden. 1935 wurden nach der Eingliederung des Saarlands in das Deutsche Reich 4000 Saarländer in Paraguay angesiedelt. Bereits 1933 hatten immerhin 14 Staaten eine vom Nansenamt ausgearbeitete Konvention unterzeichnet, die Flüchtlingen einige grundlegende Menschenrechte garantierte.
 
Freilich wurden dem Amt auch seine Grenzen aufgezeigt. Wenig helfen konnte man der wachsenden Zahl von jüdischen Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland. 1933 gründete der Völkerbund eine eigene Organisation — das »Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland« mit Sitz in London — und entzog dem Nansenamt damit die Verantwortung für die aus Deutschland geflohenen Juden. Aber auch die Wirksamkeit des Hochkommissariats blieb gering. Die meisten europäischen Staaten hielten es für angebracht, gegenüber der neuen Großmacht Deutschland einen gemäßigten Kurs einzuschlagen. So hatten die Hilfsorganisationen kaum eine Chance, für jüdische Emigranten eine neue Heimat zu finden. Auch Großbritannien zeigte sich nicht bereit, eine Auswanderung der Juden nach Palästina zu unterstützen. Bezeichnend war der Verlauf einer Konferenz, die der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt im Juli 1938 in den französischen Badeort Evian-les-Bains am Genfer See einberief. Zwar wurde beschlossen, mit den Nationalsozialisten in Gespräche über die Auswanderung der Juden einzutreten, doch lehnten es die Teilnehmerstaaten ab, mehr Flüchtlinge als bisher aufzunehmen.
 
 Die Nachfolgeorganisationen
 
Die Tätigkeit des Internationalen Nansenamts war von Anfang an zeitlich befristet. Sein Völkerbundmandat lief planmäßig am 31. Dezember 1938 ab — genau drei Wochen, nachdem das Nobelpreiskomitee dem Amt den Friedensnobelpreis verliehen hatte. Der Vorsitzende des Komitees, Frederik Stang, würdigte das Nansenamt bei der Überreichung des Preises als ein »effektives Mittel für ausgedehnte humanitäre Hilfe«. Zugleich aber mahnte er, mit einem fast prophetischen Blick auf die kommenden Vorgänge, dass das Flüchtlingselend noch lange kein Ende gefunden, es im Gegenteil eine ganz neue, dramatische Qualität erhalten habe.
 
Aus dem alten, nobelprämierten und damit finanziell liquiden Nansenamt und dem Hochkommissariat für die deutschen Flüchtlinge wurde Anfang 1939 durch den Völkerbund eine neue Organisation gebildet. Sie nahm ihre Tätigkeit in einem Klima wachsender internationaler Spannungen auf — im September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Mehr Menschen als jemals zuvor litten unter Flucht, Verfolgung, Vertreibung, doch gab es keine international koordinierte Hilfe. Nach dem Ende des Kriegs fand das alte Nansenamt einen Nachfolger in dem unter der Regie der Vereinten Nationen arbeitenden UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR). 1951 gegründet, erhielt das Kommissariat bereits drei Jahre später und dann erneut 1981 den Friedensnobelpreis — sowohl ein Beweis für die Leistungen der Organisation als auch eine traurige Bestätigung dafür, dass die Flüchtlingsfrage eines der drängendsten Probleme der Gegenwart bleibt.
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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